Über den (Un-)Sinn von Klimaschutzprojekten – Interview mit Jürg Füssler


Über den Beitrag von Klimaschutzzertifikaten zur Lösung der Klimakrise wird in den Medien seit einigen Monaten kontrovers diskutiert. Im Zentrum steht die Frage, ob den Zertifikaten tatsächlich auch ausreichende CO2-Reduktionen zu Grunde liegen und ganz grundsätzlich, ob der Kauf von Zertifikaten zu Kompensationszwecken genutzt werden soll. Diese Diskussionen münden sogar in Gerichtsprozessen zum Claim «Klimaneutralität», die in Werbeversprechen verwendet werden. Sollen Unternehmen noch in Klimaschutzprojekte investieren? Führen Kompensationszertifikate zu Greenwashing und wie entwickelt sich der Markt? Wir klären die Grundlagen und ordnen im Gespräch mit dem Geschäftsführer bei INFRAS und CO2-Markt-Experten Jürg Füssler ein.

Fotografie: Rafael Idrovo Espinoza
Artikel
von Madeleine Guyer im Gespräch mit Jürg Füssler
07.03.2024

Unter Klimakompensationen verstand man bis vor kurzem die Idee, dass der Ausstoss von klimaschädlichen Emissionen kompensiert werden könne, indem an anderer Stelle (meist in anderen Ländern zu günstigeren Konditionen) Emissionen eingespart werden. Grundvoraussetzung dafür ist, dass diese Einsparung nicht an zwei Orten angerechnet werden darf: Neu haben sich mit dem Übereinkommen von Paris praktisch alle Länder zu eigenen Klimazielen verpflichtet. Um Zertifikate für Kompensationszwecke von Unternehmen am freiwilligen Markt[1] zu nutzen, dürften sie eigentlich nicht dem Ziel der Länder angerechnet werden, wo das Klimaschutzprojekt durchgeführt wird – sondern nur dem Ziel des Auftraggebers. Diese Differenzierung ist momentan noch nicht umgesetzt und bringt die Kompensationslogik ins Wanken.

Weiter steht die Qualität von Zertifikaten in der Kritik. Die Emissionsminderung aus Klimaschutzprojekten wird abgeschätzt und für die ausgewiesenen Reduktionen werden Zertifikate ausgestellt. Deren Verkauf spielt die Finanzmittel für die Umsetzung der Projekte ein. Wird diese Wirkungsabschätzung korrekt durchgeführt, steht dem Zertifikat eine effektive Einsparung gegenüber. Auch diese Abschätzung ist mit beträchtlichen Unsicherheiten verbunden. Dass diesbezüglich einige Herausforderungen bestehen, hatte swisscleantech bereits 2017 festgehalten (zum Bericht). Weiteres Qualitätsmerkmal von Zertifikaten ist das Prinzip der «Additionalität»: Nur Reduktionsmassnahmen, die durch die zusätzlichen Finanzmittel aus dem Verkauf der Zertifikate durchgeführt werden konnten, sollen für Zertifikate zur Verfügung stehen – eine anspruchsvolle, aber notwendige Qualitätsanforderung. 

Die aktuelle Diskussion dreht sich vor allem um die Qualität von Forstprojekten. Die Quantifizierung von Kohlenstoffsenken des Waldes ist besonders anspruchsvoll, da der Umfang und die Dauerhaftigkeit der CO2-Speicherung abgeschätzt werden muss – dazu gehören Grundannahmen wie beispielsweise die zukünftige Abholzungsrate im Szneario ohne Projekt. Die Projektträger haben sehr viel Freiheiten in der Wahl der Annahmen und Berechnungsparameter, oft tendieren sie dazu, die tatsächliche Senkenleistung zu überschätzen. Vorbehalte bestehen aber auch bei Förderprojekten für erneuerbare Energien wie Wind und PV, wo die Technologiekosten in den letzten Jahren stark gesunken sind und wo die Einnahmen aus dem Verkauf von Zertifikaten oft zu klein sind, um für den Investitionsentscheid relevant zu sein.

Diese Kritik zeigt, dass Handlungsbedarf bei der Bilanzierung der Effekte von solchen Klimaschutzprojekten besteht. Deshalb arbeiten verschiedene Initiativen und Gremien daran, die Transparenz und Verlässlichkeit von Klimaschutzzertifikaten für den freiwilligen Markt zu erhöhen.

Jürg Füssler

Jürg Füssler, Geschäftsführer bei INFRAS, ist seit 20 Jahren ein prägender Experte im Zertifikatsmarkt. Er war lange Jahre Mitglied des CDM-Methodenrates (Clean Development Mechanism) der UN-Klimarahmenkonvention und ist Mitglied des Expertengremium des ICVCM (Integrity Council for the Voluntary Carbon Market). Der ICVCM fördert die Qualität von Emissionsgutschriften uns sorgt für echte und zusätzliche Treibhausgasminderungen.

Wie schätzt du die Qualität der Zertifikate, die momentan zur Klimakompensationszwecken gehandelt werden, ein?

Jürg Füssler: Aus unserer Arbeit und Analysen zeigt sich, dass heute die überwiegende Zahl der Projekte ein Qualitätsproblem aufweisen. Das bedeutet, dass ein Grossteil der Projekte die Emissionsreduktionen massiv überschätzt und vermutlich auch ohne die Gelder aus dem Zertifikatverkauf umgesetzt worden wären. Wir arbeiten auch für die Ratingagentur Calyx Global, welche versucht, die Qualität von solchen Projekten vergleichbar zu machen. Die Ratings zeigen, dass es bei allen Projekttypen grosse Qualitätsunterschiede gibt. Es sind nicht alle Forstprojekte schlecht, der Grossteil bewegt sich aber eher am unteren Rand des Ratingbandes. Es gibt aber vereinzelt auch gute Projekte. Es ist auch nicht so, dass man auf einen bestimmten Standard wie etwa Gold Standard oder Verra setzen kann: alle grösseren Standards, die wir untersuchten, weisen durchwegs eine grosse Zahl an Projekten mit tiefer Qualität auf. Gleichzeitig muss auch der Beitrag eines Projekts zu der Erreichung der Sustainable Development Goals in die Bewertung miteinbezogen werden. Insbesondere Forstprojekte schneiden dabei relativ gut ab.  

Ein Anliegen von dir ist, die Qualität der Projekte zu erhöhen, welche Ansätze gibt es dazu?

Käufer am Markt wissen zurzeit nicht mehr, was gut und was schlecht ist. Es gibt die Anstrengungen, über den Integrity Council for the Voluntary Carbon Market (ICVCM) ein neues Label für jene Projekte einzuführen, die die Mindestqualität der sogenannten Core Carbon Principles erreichen. Momentan ist gerade die Prüfung von unzähligen Projekttypen angelaufen. Das CCP-Label sollte künftig erlauben, qualitativ hochstehende Projekte einfach zu erkennen. Es ist allerdings noch unklar, wie hoch ICVCM den Qualitätsmassstab am Ende tatsächlich setzt.

Weshalb ist die Kritik an Zertifikaten gerade jetzt so laut geworden?

Der Markt für CO2-Zertifikate ist in den letzten 2-3 Jahren sehr stark gewachsen mit dem steigenden Interesse von Firmen, sich zu Reduktionszielen z.B. gemäss SBTi, zu verpflichten. Dadurch ist auch das öffentliche Interesse gewachsen. Davor hatte schlicht niemand ein Interesse, genauer hinzuschauen, denn es herrschte sowohl für die Käufer (günstige Erfüllung von Klimazielen) als auch für die Verkäufer (höhere Einnahmen) eine Win-Win-Situation, die sich ausserdem als «grün» vermarkten liess.

Macht es aus deiner Sicht trotzdem noch Sinn, als Unternehmen auf Zertifikate zu setzen? Und wenn ja unter welchen Umständen?

Aus meiner Sicht gibt es zwei Stossrichtungen, unter denen der Kauf von Zertifikaten Sinn machen kann. Einerseits braucht die Reduktion von Emissionen im eigenen Betrieb Zeit. Wenn eine Firma tatsächlich alle Anstrengungen unternommen hat, um die eigenen Emissionen zu reduzieren und einen Plan vorweist, wie sie ihre Emissionen bis 2050 auf null reduzieren wird, kann sie aus meiner Sicht für die aktuellen Restemissionen zusätzlich Zertifikate für eine beschränkte Zeit beschaffen. Wichtig ist der Kauf von qualitativ hochstehenden Zertifikaten für Massnahmen, die effektiv ohne die Gelder aus dem Zertifikatverkauf nicht umgesetzt worden wären (geprüft z.B. von einer guten Rating-Agentur oder einer Institution wie ICVCM). Diese Zertifikate sollten aber nicht zur Kompensation der eigenen Emissionen angerechnet werden (im Sinne des «Offsetting»), sondern als Beitrag an den internationalen Klimaschutz verstanden werden («Contribution Claim»), damit Länder mit weniger finanziellen Mitteln, ihre nationalen Klimaziele erreichen und im besten Fall übertreffen. Viele Anbieter von Zertifikaten bieten seit den letzten Monaten solche Contribution Claims an. Dies führt dazu, dass Firmen nicht mehr sagen, «wir sind klimaneutral», sondern ehrlich offenlegen müssen welche eigenen Anstrengungen sie unternehmen.

Contribution Claims

Mit dem Contribution-Claim-Ansatz wurde ein alternatives Modell zu etablierteren Klimakompensationen entwickelt, mit dem Unternehmen über private finanzielle Beiträge den globalen Klimaschutz fördern. Ein wesentlicher Unterschied zu Klimakompensationen besteht darin, dass Unternehmen die Emissionsminderungen nicht ihren eigenen Emissionen anrechnen können (und damit auch nicht ihrem Ziel der «Klimaneutralität»), sondern diese als «Klimafinanzierungsbeitrag» deklarieren und kommunizieren. Unternehmen übernehmen dadurch eine Klimaverantwortung und leisten einen wichtigen Beitrag zur Technologieentwicklung im Land, wo das Klimaschutzprojekt durchgeführt wird – und zum Klimaschutz als globales Anliegen.

Die Qualitätsanforderungen bleiben bestehen: Es muss also weiterhin sichergestellt werden, dass das Projekt nur durch die Finanzierungen aus dem Zertifikatsverkauf zustande gekommen ist (Prinzip der «Additionalität») und dass die Berechnung der Emissionsreduktionen und die Bewertung des Beitrags zur nachhaltigen Entwicklung in der Projektregion höchsten Qualitätsansprüchen genügt.

Andererseits wird es auch in Zukunft Emissionen geben, die nur schwer zu eliminieren sind. Diese kann man mit technischen Abscheidungen ausgleichen – wie zum Beispiel die Kohlenstoffabscheidung und -speicherung. Dafür besteht aus meiner Sicht ein Bedarf nach einem Zertifikathandel, damit die Nachfrage für diese neuen teuren Technologien steigt. Ein Argument für Firmen, sich schon heute hier zu engagieren, könnte sein, dass sie mit ihren Zertifikaten helfen, diese neuen Technologien weiterzuentwickeln.

Welche weiteren Ansätze siehst du für Unternehmen, die für ihre Restemissionen sinnvolle Massnahmen ergreifen möchten?

Ich unterstütze den Ansatz des WWF, der sagt, dass eine Firma zuerst seine eigenen Emissionen bilanzieren muss, dann so weit wie möglich reduzieren soll und dann die Klimakosten (social cost of carbon) der Restemissionen festlegen soll. Diese Kosten entsprechen den Schäden, die jede zusätzlich emittierte Tonne CO2 verursacht. Nach unseren Einschätzungen dürften diese Kosten heute bei rund 700CHF pro Tonne liegen. Einen Betrag in der Höhe der so geschätzten Klimakosten sollte die Firma dann in Contribution Claims aus guten Kompensationsprojekten investieren, eventuell auch in Technologien für die Entfernung von CO2 aus der Atmosphäre oder in Projekte zur Anpassung an den Klimawandel in Entwicklungsländern.

Wie schätzt du persönlich die zukünftige Entwicklung des Zertifikatmarktes ein?

Aus meiner Sicht werden in den allermeisten Ländern ab ca. 2030 keine Zertifikate für Kompensationen oder Contribution Claims mehr generiert werden können, da alle Länder eigene Ziele erreichen müssen und die Reduktionen an deren eigene Ziel angerechnet werden sollen. Es bleiben dann noch die am wenigsten entwickelten Länder, denen die finanziellen Mittel für die Dekarbonisierung fehlen. Dort wird es meines Erachtens noch ein Potential für Contribution Claims geben. Damit könnte man diesen Ländern weiterhin helfen, ihre Ziele zu erreichen. Zertifikate für die CO2-Entfernung auf der anderen Seite werden aus meiner Sicht aber auch in Zukunft wichtig sein, um den sehr kleinen Teil an Restemissionen sehr teuer kompensieren zu können.

Empfehlungen von swisscleantech

Gute Klimaschutzprojekte stellen wichtige Weichen in Projektländern

Gute Klimaschutzprojekte leisten einen globalen Beitrag in Ländern des globalen Südens, damit sie ihre Netto-Null-Ziele schneller erreichen. Sie sollen als Klimafinanzierung verstanden werden und nicht als Kompensation eigener Emissionen. Zertifikate sollen also nicht die Reduktionen in der eigenen Wertschöpfungskette ersetzen, sondern sie ergänzen.

Schnelle und tiefe Emissionssenkungen anstreben

Um den globalen Temperaturanstieg effektiv auf 1,5°C zu begrenzen, müssen Unternehmen rasch wirksame und tiefgreifende Massnahmen ergreifen, um die Emissionen in der gesamten Wertschöpfungskette zu senken. Die Science-Based Targets Initiative (SBTi) unterstützt dabei zielführend: Die Initiative lässt Investitionen in Klimaschutzprojekte nur zusätzlich zu der eigenen Zielerreichung zu.

Weg vom Claim Klimaneutralität, hin zu Contribution Claims

Der auf Kompensationslogik basierende Claim «Klimaneutralität durch den Kauf von Zertifikaten» ist irreführend und gerät so auch aus regulatorischer und wettbewerbstechnischer Sicht zunehmend unter Druck. Immer mehr Anbieter von Klimaschutzzertifikaten vergeben diesen Claim nicht mehr, sondern weisen darauf hin, dass die Zertifikate zu Contribution Claims führen. Dies erlaubt es Unternehmen, weiterhin die Wirkung dieser unterstützen Projekte zu kommunizieren, jedoch nicht mehr, zu behaupten, dadurch Klimaneutralität der eigenen Aktivitäten zu erreichen. 

Augen auf bei der Qualität

Wie bei der Auswahl von Zertifikaten aus Klimaschutzprojekten muss auch bei Contribution Claims die Qualität der Projekte geprüft werden. Insbesondere sollte bei den Projekten sichergestellt werden, dass die Berechnung der Emissionsreduktion plausibel ist, sie die nachhaltige Entwicklung in den Ländern fördern und dass sie effektiv nur aufgrund der Finanzflüsse aus dem Zertifikatverkauf umgesetzt wurden. Gute Ratingagenturen oder Qualitätsinitiativen wie der ICVCM können beim Kaufentscheid behilflich sein.

Transparente Kommunikation

Unternehmen sollten ihre Verpflichtungen, ihr Engagement zur Emissionsreduktion sowie die zusätzlichen Finanzierungen von Klimaschutzprojekten transparent kommunizieren. Bei der Kommunikation von Contribution Claims ist es wichtig, klar zu kommunizieren, dass das Unternehmen Emissionen in der eigenen Wertschöpfungskette nicht mit den Emissionsminderungen aus dem Projekt ausgleicht.

Don’t punish the leaders

Es ist wichtig, dass jedes Engagement zur raschen Dekarbonisierung unterstützt wird. Klimaschutzprojekte mögen Qualitätslücken aufweisen und werden laufend weiterentwickelt. In der Praxis zeigt sich, dass diejenigen Unternehmen, die Zertifikate kaufen oft auch umfangreiche Massnahmen zur Reduktion ihrer eigenen Emissionen vornehmen (Ecosystem Marketplace 2023). Darum ist es falsch, Unternehmen zu verurteilen, die ihre Emissionen ambitioniert reduzieren und diese Massnahmen durch den Kauf von Zertifikaten ergänzen. Die grosse Herausforderung liegt nicht in den Fehlern einzelner Klimaschutzprojekte, sondern am Fehlen robuster Standards und in der Tatsache, dass es vielen Unternehmen noch deutlich an Ambition zur Erreichung ihres Netto-Null-Ziels fehlt. 


[1] Länder können ebenfalls Emissionen über internationale Klimaprojekte kompensieren (verpflichtender Markt). Dieser Markt ist jedoch sehr stark reguliert und nicht teil dieser Ausführungen.