Kernkraft und Erdgas neuerdings nachhaltig? Zur EU-Taxonomie auf Abwegen


Die zuständige Kommission will in der EU-Taxonomie Kernenergie und Strom aus Erdgas als nachhaltig klassifizieren. Diese Diskussion wäre allenfalls vor 30 Jahren zeitgemäss gewesen, heute setzt sie bloss falsche Signale ohne weitere grosse Effekte.

Fotografie: Lukas Lehotsky

Zur Nachhaltigkeit und Konkurrenzfähigkeit von Strom aus Erdgas
Der Entwurf zur Ergänzung der EU-Taxonomie sieht für neue oder bestehende Gaskraftwerke zwei Varianten vor:

Variante a) sieht vor, dass die Treibhausgasemissionen eines nachhaltigen Erdgaskraftwerks über den gesamten Lebenszyklus unter 100 gCO2eq/kWh bleiben müssen (was ungefähr dem aktuellen Strommix der Schweiz entspricht). Moderne Gaskombikraftwerke kommen auf ungefähr 400 gCO2eq/kWh, und – falls ein Grossteil des CO2 aus der Verbrennung mittels Carbon Capture and Storage (CCS) abgetrennt wird – kommen sie auf 180-220 gCO2eq/kWh. Doch wenn mit CCS 90% oder mehr des CO2 aus der Verbrennung abgetrennt werden, müssten dann die Emissionen nicht in der Grössenordnung von 40 gCO2eq/kWh sein?

Das entscheidende Kriterium ist hier, dass die Taxonomie die Grenzwerte in CO2-Äquivalenten (CO2eq) beziffert. Somit sind auch andere Treibhausgasemissionen vor und nach der Stromproduktion erfasst, also auch Erdgaslecks. Erdgas besteht primär aus Methan, welches über 100 Jahre 29.8-mal treibhausaktiver ist als CO2. Die Erdgasleckagen machen somit typischerweise deutlich über 50% (ca. 150 gCO2eq/kWh) der Lebenszyklusemissionen von Gaskombikraftwerken mit CCS aus. Ein ähnliches Problem tritt auch bei der Nutzung von Biogas auf, weshalb Leckratengrenzwerte sehr restriktiv gehandhabt werden sollten. Somit lassen sich die Emissionen von Gaskombikraftwerken auch durch Beimischen von Biogas nicht sonderlich drücken.

Entsprechend darf man skeptisch sein, ob es viele Erdgaskraftwerke geben wird, die diese Lebenszyklusemissionszielwerte der ersten Variante von unter 100 gCO2eq/kWh erfüllen.

Die zweite Variante, b), betrifft Erdgaskraftwerke, deren Baugenehmigung vor Ende 2030 erteilt werden. Ihre Lebenszyklusemissionen müssen unter 270 gCO2eq/kWh liegen (es kommen also wie bei a) auch nur Gaskombikraftwerke mit CCS in Frage). Zudem müssen sie ein altes Kraftwerk ersetzen, dabei 115% dessen Leistung haben und unter 45% dessen Lebenszyklustreibhausgasemissionen pro kWh bleiben.

Für beide Varianten gilt: Da CCS die Energieproduktion mindert (um rund 15-20% bei Gaskombikraftwerken) und die Kosten erhöht (für die CCS-Einheit, den Transport und die Speicherung von CO2), wird ein solches Kraftwerk kaum konkurrenzfähig sein gegenüber Solar- und Windenergie (inklusive Speicherung).

Daher ist zu bezweifeln, dass viele neue und bestehende Erdgaskraftwerke unter den vorgeschlagenen Richtlinien der EU-Taxonomie als nachhaltig gelten werden. Ausgenommen vom zweifelhaften "Nachhaltigkeitslabel" der EU-Taxonomie sind übrigens Erdgasheizungen und Kochfelder, welche beispielsweise in Schweizer Städten (zu) häufig vorkommen.

Kernenergie: Die Schweiz hat nachhaltigere und wirtschaftlichere Alternativen
Die Kernenergie ist eines der Beispiele, wo Klimaschutz nicht gleichbedeutend wie Umweltschutz ist. So gehen 1.5°C-kompatible Klimaszenarien im globalen Mittel von einem Zubau von 59% im Jahr 2030 und von 150% im Jahr 2050 aus (bezogen auf 2010). Dies betrifft primär Regionen mit bisher verhältnismässig geringer Stromversorgung. Ein Zubau in der Schweiz macht hingegen wenig Sinn, da ein Kernkraftwerk kaum vor 2050 ans Netz gehen würde und auch finanziell sehr zweifelhaft lukrativ ist. Zudem haben wir in der Schweiz seit Dekaden genügend geeignete Alternativen, die wir nun endlich geschickt nutzen müssen. Lassen wir uns also von möchtegern-nachhaltigen Deklarationen nicht aufhalten und machen uns an den lokalen Ausbau mit Energie aus Wind, Photovoltaik, Wasser und Speichern.

 

Ein Gastbeitrag von Cyril Brunner, Postdoc in der Klimaphysik an der ETH Zürich (Twitter)